Fluchtpunkt
Sprache - Komponieren im elektronischen Medium
Durch die grenzenlose Vielfalt des elektronischen Klangmaterials sind überlieferte musikalische Regelsysteme, welche diskrete Tonhöhen mit unterscheidbaren Klangfarben in das Zentrum ihrer Gestaltung stellen, in elektronischer Musik nur bedingt anwendbar, da diese das eigentlich neue Potential dieses Klangmaterials - vor allem die unerhörte Geschmeidigkeit bei der Schaffung und Modifikation von Klangfarben - weitgehend ungenutzt lassen. Daraus ergibt sich jedoch zwangsläufig die Frage nach geeigneten Alternativen für eine angemessenere kompositorische Gestaltung. Woran sollte diese sich aber halten, wenn nicht an diskrete Tonhöhen, welche sich in 2000 Jahren Musikgeschichte als relativ verläßlicher Faktor erwiesen haben?
Eine Möglichkeit, diesem Dilemma zu entkommen, war und ist die Verwendung von Sprache bzw. Sprachmaterial als Gegenstand musikalischer Gestaltung. Warum nun gerade Sprachmaterial, da doch das sprachliche Kommunikationssystem des Menschen nahezu unabhängig ist von der ererbten musikalischen Ebene? Zunächst einmal, weil es überhaupt eine weitgehend verläßliche Basis für akustische Kommunikation bildet und daher einen allgemein geläufigen Ausgangspunkt für weitere Erkundungen abgeben kann. In jedem Fall ergibt sich bei der musikalischen Gestaltung durch den nahezu vollständigen Verzicht auf traditionelle melodische und harmonische Elemente die Notwendigkeit zu verstärkter Reflexion und auch theoretischer Systematisierung der eigenen künstlerischen Handlungsweise. Eine stärkere Orientierung auf unmittelbar wirksame klangsinnliche Komponenten war und ist oft die Folge.
Sprachkomposition ist innerhalb elektronischer Musik inzwischen zu einem eigenen Genre geworden. Den Anfang machte 1956 der "Gesang der Jünglinge" von Karlheinz Stockhausen, der Sprache bzw. Gesang zur erlösenden Erweiterung des ursprünglich streng seriell strukturierten Konzeptes der Kölner elektronischen Musik verwendete. Weitere, mittlerweile berühmte Stücke, wie "Omaggio à Joyce" von Luciano Berio und "Epitaph für Aikichi Kuboyama" von Herbert Eimert, folgten 1958 bzw. 1962 und waren ebenfalls Erkundungen auf dem Weg, die serielle Ordnung mit ihr nicht unterordenbaren Elementen anzureichern um sie schließlich vollständig zu durchbrechen, durchaus mit Erfolg, wie man heute weiß. Andre Komponisten setzten von Anfang an vor allem auf die suggestive Kraft elektronischer Klänge, befürchteten jedoch, wie Edgard Varèse, daß es nicht lange dauern wird, bis "einige musikalische Nekromanten elektronische Musik in Regeln einbalsamieren wollen" (1).
Gerade weil die assoziativen Komponenten elektronischer
Klänge so dominierend sein können, war von Anfang an der Wunsch nach
einem Wegweiser, einer allgemein kommunizierbaren Referenz für künstlerische
Gestaltung besonders groß. Bei der Suche danach gewann die Erforschung
genereller menschlicher Wahrnehmungsprinzipien in der künstlerischen Produktion
an Bedeutung. Dabei wurde der Vergleich künstlerischer Gestaltungsweisen
in unterschiedlichen Medien für die Ableitung möglichst allgemeingültiger
Gesetze künstlerischer Wahrnehmung und damit auch künstlerischer Produktion
bedeutsam.
Abb. 1 Paul Klee "Einst dem Grau der Nacht enttaucht ..." (1918)
Von den verschiedenen künstlerischen Medien ist die Beziehung von Poesie und Musik von besonderem Interesse, da es sich in beiden Fällen um zeitlich strukturierte auditive Ereignisse handelt, die jeweils spezifischen Regeln ästhetischer Produktion unterworfen sind. Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts übte jedoch vor allem die bildende Kunst einen starken Einfluß auf das musikalische Denken von Moderne und sich ab 1910 entwickelnder Neuer Musik aus. Daher ist nicht erst seit Pierre Boulez‘ Aufsatz "An der Grenze des Fruchtlandes" der Maler und Kunsttheoretiker Paul Klee auch in der Musik des 20. Jahrhunderts ein wichtiger Bezugspunkt. Neben dem musikalisch inspirierten Charakter eines großen Teils seines bildnerischen Schaffens - Klee war bekanntlich auch ein guter Geiger - und seinen Aktivitäten beim "Blauen Reiter" gibt es aber noch eine weitere bemerkenswerte, bisher aber kaum beachtete Seite in Klees Schaffen. Sie betrifft Grundzüge seiner bildnerischen Schaffensästhetik um 1920 und ihr bisher ungenutztes Potential im musikalischen Kontext.
Ab 1916 begann Paul Klee den Vorrat seiner Darstellungsmittel
um abstrakte Zeichen, Zahlen und Buchstaben zu erweitern. In dem 1918 entstandenen
Aquarell "Einst dem Grau der Nacht enttaucht ..." nahm Klee einen geschriebenen
poetischen Text als unmittelbaren Ausgangspunkt für die malerische Gestaltung
(Abb. 1). Dieser Text ist im Bild so deutlich gegenwärtig, daß die
Buchstabenketten nicht nur die Struktur des Bildes fast vollständig determinieren,
sondern die Konturen der Buchstaben begrenzen auch die einzelnen Feldflächen,
mit deren Farbwahl er den semantischen Inhalt der Textzeilen direkt kommentiert.
Klee verwendet hier also die Darstellung eines poetischen Textes als bildkompositorischen
Ausgangspunkt, und zwar sowohl auf der formalen, als auch auf der inhaltlichen
Ebene.
Abb. 2 Paul Klee "Kamel in rhythmischer Landschaft" (1920)
Aus dem Jahr 1920 stammen Ölbilder, wie "Rhythmische Baumlandschaft" oder "Kamel in rhythmischer Landschaft" (Abb. 2), in denen deutliche gestalterische Parallelen zum Textaquarell von 1918 erkennbar sind. Die strenge horizontale Gliederung, ursprünglich durch die Textketten determiniert, wird hier von Klee als zentrales Strukturierungsprinzip beibehalten obwohl er nun keinen erkennbaren Text mehr benutzt. Die Verwendung des Wortes "rhythmisch" im Bildtitel ist ein deutlicher Hinweis auf die zeitliche Dynamisierung, die Klee mit Hilfe von Texten in seinen Bildern zu erreichen gedachte, wie er in seinem im gleichen Jahr erschienenen Manifest "Schöpferische Konfession" anmerkt. Diese horizontalen Gliederungen bilden nun das Gerüst für eine freizügigere malerische Gestaltung dessen, was sich zwischen diesen Linien abspielt. Beim "Kamel in rhythmischer Landschaft" ist die Verwandtschaft mit den wenige Jahre zuvor entstandenen Textbildern in den Konturen des Kamels besonders deutlich sichtbar.
Im Gesamtschaffen von Paul Klee markieren diese Bilder
eine Etappe auf dem Weg zu seinen nur wenig später entstandenen Farbform-Rhythmus-Gemälden,
die sich u. a. durch weiterreichende formale Abstraktionen auszeichnen. Klee
griff also in einer für ihn bedeutsamen Phase künstlerischer Neuorientierung
auf sprachliche Strukturen zurück, um diese als Ausgangspunkt sowohl für
formale als auch inhaltliche Gestaltung zu verwenden. Dabei nutzte er die Qualität
der Sprache, d. h. in seinem Fall poetischer Strukturen, als unmittelbar wirksames,
allgemein verständliches Medium menschlicher Kommunikation und daher auch
künstlerischer Artikulation.
Musikalische Konsequenzen
Aus der Wirksamkeit dieses Konzeptes in der bildnerischen
Sphäre folgt, daß sich auch im musikalischen Bereich Sprache auf
diese Weise einsetzen lassen müßte. Sprache bzw. poetischer Text
würde dann nicht auf konventionelle Weise vertont, sondern sowohl auf formaler
als auch auf klanglicher und inhaltlicher musikalischer Ebene als Ausgangspunkt
für die finale Gestaltung eines musikalischen Objektes verantwortlich sein.
Wie solche musikalischen Anwendungen praktisch aussehen können, soll im
folgenden an verschiedenen Beispielen gezeigt werden. Eine Verwendung von Sprache
bzw. poetischem Text in dieser Weise liegt mehreren meiner elektronischen Kompositionen
zugrunde, die in der Zeit seit 1989 entstanden sind. Dabei wurde für jedes
der Stücke eine eigene kompositorische Technik entwickelt, um dem jeweiligen
Ausgangstext in musikalischer Hinsicht möglichst nahe zu kommen (2).
zeichen
zerbrochen sind
die harmonischen krüge,
aber der ton und
das wasser drehen sich weiter
ernst
jandl
|
Abb. 3 Ernst Jandl: zeichen
Das erste Stück verwendet das Gedicht "zeichen" von Ernst Jandl als Grundlage für jegliche weitere kompositorische Gestaltung (Abb. 3). Es trägt folgerichtig daher ebenfalls den Titel ZEICHEN, und wurde 1989 im Studio für elektronische Klangerzeugung der Dresdner Musikhochschule realisiert. Die Wahl des Textautors fiel leicht, da Jandl mit seiner spielerischen Sprachbehandlung eben jenen Assoziationsreichtum lustvoll gestaltet, der auf der musikalischen Ebene eine Domäne elektronischer Gestaltung ist. Der von Jandl bereits 1953 verfaßte Text "zeichen" erschien mir für das Vorhaben auch besonders geeignet, weil er zum einen eine überschaubare, nur fünf Zeilen umfassende Struktur besitzt, zum anderen aber durch seinen auf eine künstlerische Umbruchsituation verweisenden Inhalt die Suche nach neuen Gestaltungsweisen thematisiert.
Dieser poetische Text von Ernst Jandl wurde nicht im konventionellen Sinne "vertont", sondern ist in der Komposition ZEICHEN auf zwei spezifische Arten wirksam. Zum einen bot die strukturelle Ebene des Textes den Ausgangspunkt für die Entfaltung der musikalischen Struktur, indem Charakter und Häufigkeit der Sprachlaute weitgehende Entsprechungen in Aufbau und Anordnung der musikalischen Klänge fanden. Zum anderen bildete eine assoziative Ausdeutung der inhaltlichen Ebene des poetischen Textes mit musikalischen Mitteln elektronischer Klanggestaltung den Kontrapunkt zur strukturellen Arbeit am Text. Die endgültige musikalische Form und auch die finale Klanggestalt entstand so aus einer innigen Verknüpfung von struktureller und assoziativer Ebene des Jandl-Textes. Das verwendete Klangmaterial in ZEICHEN wurde hauptsächlich elektronisch erzeugt (FM-Synthese), vereinzelt auch gesamplet. Es kamen allerdings keinerlei aufgezeichnete Sprachklänge zur Anwendung. Die wechselnden Grade der Sprachähnlichkeit von musikalischen Strukturen in ZEICHEN entstehen ausschließlich durch simultane und sukzessive Verknüpfung der verschiedenen elektronischen Klangelemente.
Die Verwendung von realen Sprachelementen, die im Computer aufgezeichneten wurden, war zwei weiteren Kompositionen vorbehalten, RIMBAUD IST DER DICHTER I und SUB ROSA, die mein für ZEICHEN entwickeltes Modell der musikalischen Strukturierung aus Sprache weiterführten. Bei dem Text, der diesen beiden Stücken zugrunde liegt, handelt es sich um "vokale", eines der berühmtesten Gedichte von Arthur Rimbaud, der hier mit synästhetischen Bildern ungeheuerer Intensität die unterschiedlichen Charaktere der einzelnen Vokalklänge beschreibt. Damit war dieser Text ein geradezu idealer Ausgangspunkt für weitere musikalische Transformationen.
Der erste Teil dieses Textes (Einleitung und A-Teil), welcher
in der deutschen Stefan George-Übersetzung zur Anwendung kam, bildete die
Grundlage für die 1990 im Studio für elektroakustische Musik der Akademie
der Künste zu Berlin realisierte elektronische Komposition RIMBAUD IST
DER DICHTER I (Abb. 4).
Textgrundlage
für RIMBAUD IST DER DICHTER I |
deutsch von
Stefan George
A schwarz E weiß
I rot U grün O blau - vokale |
deutsch von
Hans Therre und Rainer G. Schmidt (...) |
Textgrundlage
für SUB ROSA (Rimbaud ist der Dichter II) |
E: helligkeit
von dämpfen und gespannten leinen Speer stolzer gletscher . blanker fürsten . wehn von dolden. I: purpurn ausgespienes blut . gelach der holden Im zorn und in der trunkenheit der peinen. U: räder . grünlicher gewässer göttlich kreisen. Ruh herdenübersäter weiden . ruh der weisen Auf deren stirne schwarzkunst drückt das mal. O: seltsames gezisch erhabener posaunen. Einöden durch die erd- und himmelsgeister raunen. Omega - ihrer augen veilchenblauer strahl. |
E: Zelte & Dämpfe
kristallin Lanzen stolzer Gletscher blanke Monarchen Schüttelfrost der Dolden I: purpur Blutsturz Wiehern holder Lippen im Zorn oder penitenter Trunkenheit U: Zyklen göttliches Vibrato virider Meere Friede beviehter Fluren Friede der Furchen von der All=Chemie in große forschende Stirnen gedrückt O: äußerstes Klar=Horn voll fremdem Schrillen Stillen durchkreuzt von Monden & Engeln: O du Omega violettes Licht=Rad ihrer KrYpton=Iris! |
Abb. 4 Arthur Rimbaud: vokale
Auch hier war die strukturelle Ebene des Textes der Ausgangspunkt
für die Entfaltung der musikalischen Struktur. Die Anordnung der Sprachlaute
im Originaltext findet ihre Entsprechung auf der musikalischen Ebene, wobei
nun das Klangmaterial des Stückes vollständig aus gesungenen oder
gesprochenen Vokalklängen und ihren Modifikationen, d. h. elektronischen
Bearbeitungen besteht. Dafür wurde im Computer eine Bibliothek der verwendeten
Original-Sprachlaute angelegt. Die Charaktere der Bearbeitungen werden von unterschiedlichen
Graden der Annäherung an die originalen Klangfarben der aufgezeichneten
Vokale und Konsonanten bestimmt. Diese graduellen Transformationen mit zu- bzw.
abnehmenden Ähnlichkeiten zu den wiedererkennbaren Original-Sprachlauten
sind das dominierende Klangmaterial für assoziative Ausdeutungen der inhaltlichen
Ebene des Rimbaud-Textes.
Damit ist auch in RIMBAUD IST DER DICHTER I die durchdringende Verzahnung zwischen
dem Text als Grundlage sowohl für musikalische Struktur als auch für
die konkrete Ausformung dieser Struktur mit musikalischem Material das bestimmende
Kompositionsprinzip.
Ein Zufallsfund in Form einer neueren, in den 70er Jahren entstandenen Übersetzung bzw. Nachdichtung von "vokale" durch Hans Therre und Rainer G. Schmidt führte zu einer Erweiterung dieser kompositorischen Technik. Die überraschende Tatsache, daß in der älteren Übertragung des Rimbaud-Textes durch Stefan George und der neueren Fassung aus den 70er Jahren oft erhebliche Unterschiede in der Ausformung sowohl der poetischen Struktur als auch der evozierten Bilder bestanden, brachte mich auf die Idee, diese Ambivalenz auch auf der musikalischen Ebene zu gestalten.
So geschehen in der elektronischen Komposition SUB ROSA (3), realisiert 1992 im Elektronischen Studio der Technischen Universität Berlin. Hier sind gleich zwei formbildende Prinzipien simultan wirksam. Die beiden deutschen Übertragungen - von George sowie von Therre und Schmidt - bilden jeweils ihre eigene Strukturen aus Sprachlauten und ihre eigenen assoziativen Entwicklungen der dazugehörigen Bilder mit den Mitteln elektronisch modifizierter Sprachklänge. Die endgültige Form von SUB ROSA entstand durch das simultane Verknüpfen, d. h. das "Übereinanderschichten" dieser beiden gleichberechtigten und ihrer Entstehung nach unabhängigen Ebenen. Dennoch sind sie natürlich nicht völlig unabhängig, da sich beide Texte direkt auf das Rimbaud-Original beziehen. Da Bilder und Strukturen der Text-Übertragungen zwar teils überaus verschieden, teils aber auch sehr ähnlich sind, ergibt sich aus der Überlagerung dieser beiden Schichten ein völlig neuer Raum musikalischer Wechselwirkungen.
Ihre gegenwärtige Ausprägung
fand diese kompositorische Technik der Schaffung musikalischer Strukturen aus
der Transformation von Sprachstrukturen in Vier kurze Studien (THE INVENTOR,
ZU KURZ, KUNST, TREVOCE), die im Rahmen des TONART
FÜNF-Projektes (1995 gemeinsam mit Jörg Thomasius und Lars Stroschen
für eine gleichnamige CD (4) realisiert) im Studio für elektronische
Musik der Hochschule "Mozarteum" in Salzburg entstanden. Klanglicher und auch
struktureller Ausgangspunkt war hier wiederum Sprachmaterial, nun allerdings
kein poetischer Text sondern nur jeweils ein einzelner gesprochener Satz, der
im Computer aufgezeichnet wurde. Die zeitliche Struktur dieses Satzes, d. h.
der Reihenfolge seiner langen und kurzen Silben bzw. Wörter mit den dazwischen
befindlichen langen und kurzen Pausen, determinierte die musikalische Form der
einzelnen Stücke, indem diese Mikro-Struktur durch zeitliche Dehnung etwa
mit dem Faktor 100 auf die Ebene der musikalischen Großform transformiert
wurde (Abb. 5).
Abb. 5 Ableitung von Klangstruktur und formaler Stuktur aus Sprachmaterial in der elektronischen Komposition THE INVENTOR von André Ruschkowski
In jedem der so entstandenen Formteile dominieren nun bestimmte,
vom Ausgangssatz abhängige Klangelemente. Das Klangspektrum dieser Elemente
wurde im Computer analysiert, d. h. in diesem Fall in seine Sinuston-Bestandteile
zerlegt (McAulay/Quatieri-Sinusoidal Modeling). Durch erneute Resynthese dieser
zuvor gewonnenen Sinuston-Bestandteile wurden nun zunächst neue Klänge
mit gleichen spektralen Eigenschaften synthetisiert. Ziel war jedoch, Klang-Familien
mit - im Verhältnis zum jeweiligen Ausgangsklang - abnehmender Ähnlichkeit
zu bilden, deren graduelle Unterschiede dabei deutlich hörbar sein sollten.
Diese so entstandenen Klangfamilien dominieren die jeweilige Klanggestaltung
in den einzelnen Formteilen der Kompositionen (1 - 8), in denen sie mit Klängen
aus Familien anderer Formteile kombiniert und kontrastiert werden. Die auf diese
Weise entstehenden sprachähnlichen Gestalten besitzen - trotz aller Determinierung
- eine weit größere musikalische Variationsbreite als bei der Verwendung
eines poetischen Textes, der mit seinen Bildern die musikalische Anordnung der
einzelnen Klangelemente unmittelbarer zu lenken vermag.
Wo liegen nun die Vorteile einer solchen sprachorientierten Arbeitsweise?
Zunächst ermöglicht dieses Vorgehen eine innige
Verbindung von historisch gewachsenen Arbeitstechniken der elektronischen Musik
mit denen der Musique concrète sowie und den weitreichenden Möglichkeiten
zur Klangsynthese und -bearbeitung heutiger Computertechnik. Im Mittelpunkt
der musikalischen Gestaltung steht die sinnliche Erfahrbarkeit des Klanges.
Die Strukturierung über Sprache bzw. ihre Elemente schafft eine wichtige
Voraussetzung dafür, daß diese Dispositionen ebenfalls direkt wahrgenommen
und verstanden werden können, d. h. ihr semanischer Gehalt wirkt ebenso
wie die sinnliche Qualität des Klanges unmittelbar und ohne bewußte
Decodierungsleistung des Rezipienten. Vom kompositorischen Standpunkt besonders
reizvoll ist der Aufenthalt in der Grauzone zwischen verständlichen und
nicht mehr verständlichen Sprachelementen. Dieser Grenzbereich ist nicht
konstant, er verschiebt sich beim Hören - je nach Kontext - ständig,
und zeigt deutlich die Prozeßhaftigkeit der musikalischen Wahrnehmung.
Der nachvollziehbaren Gestaltung dieses Prozesses waren in den hier genannten
Musikbeispielen alle kompositionstechnischen Mittel untergeordnet. Damit bietet
diese Methode der Sprachkomposition nicht nur eine praktikable sondern auch
eine flexibel und individuell erweiterungfähige Alternative zu reinen material-
oder strukturdominierten Vorgehensweisen beim Komponieren im elektronischen
Medium.
Fußnoten:
(1) Edgard Varèse: Die Befreiung des Klanges.- in: Edgard Varèse - Rückblick auf die Zukunft.- München 1983.- S. 23.
(2) Die sich zeigenden Parallelen zur bildnerischen Arbeitsweise von Paul Klee wurden von mir erst vor kurzem entdeckt, d. h. alle beschriebenen musikalischen Konzeptionen entstanden ohne die Kenntnis der Text-Arbeitsweise von Paul Klee. Umso mehr freut mich diese nachträgliche Bestätigung meines Tuns.
(3) Untertitel RIMBAUD IST DER DICHTER II. Die Kompositionen ZEICHEN, RIMBAUD IST DER DICHTER I und SUB ROSA befinden sich auf der CD "Composers Edition Vol.I", erhältlich unter ruschkowski@web.de
(4) André Ruschkowski/Jörg
Thomasius/Lars Stroschen: TONART FÜNF (1995),
OS 005, erhältlich unter ruschkowski@web.de